Leseprobe
Andrea Levy
Niemals weit von Nirgendwo
Vivien
Auf dem Türrahmen zum Wohnzimmer waren
Striche. Für Olive und mich. Mit Bleistift auf die Farbe gezeichnet, weil unsere Mum sie
eines Tages, wenn es egal war, wie groß wir waren, oder wenn sich unsere Größe nicht
mehr wöchentlich änderte, wegwischen würde. Aber sie blieben trotzdem da. Olives
jüngste Striche waren höher als meine. Ich mußte mich auf Zehenspitzen stellen, um sie
richtig sehen zu können. Aber Olive war ja auch älter als ich, drei Jahre älter. Olive
war älter und größer, und mein ganzes Leben lang mußte ich mich auf Zehenspitzen
stellen, um sie zu sehen.
In Schwesterjahren sind drei Jahre eine lange Zeit. Drei Jahre bedeuteten, daß Olive in
der Unterstufe war und ich ein Baby in der ersten Klasse. Sie ging in einer schicken neuen
Schuluniform in die höhere Schule, und ich ging mit verschrammten Knien und Murmeln in
der Tasche in die Unterstufe. Sie ging mit ihrem Freund und knutschte auf der Türschwelle
rum; ich lief in Socken mit Sindy rum.
Sie war meine große Schwester. Ich war ihre verdammte kleine Babyschwester - ihre
nervende kleine Mistschwester - ihre Hau-bloß-aus-meinem-Zimmer-ab-Schwester - ihre
Du-gehst-mir-auf-den-Keks-Schwester.
Wir waren Schwestern, und wir sahen uns ähnlich. Wir hatten von väterlicher Seite die
gleichen Gesichtszüge geerbt. Eine große Nase und genauso große Ohren, aber irgendwie
nicht unpassend. Irgendwie paßten sie gut in unser ovales Gesicht; Olives war feiner
geschnitten als meines, symmetrischer. Aber ich hatte eine helle Haut - eine strahlende
Gesichtsfarbe. Im Dämmerlicht konnte man mich glatt für eine Italienerin oder Spanierin
halten. Olive war dunkler. Schwarz. Das Erbe der Karibik.
Unsere Eltern waren aus Jamaika. Meine Mutter war ein Mädchen vom Land, das auf einer
Farm in der Nähe von Savannah-la-Mar in Westmoreland aufwuchs. Ihre Eltern besaßen einen
Laden, hielten Hühner und gingen jeden Samstag in die Seventh-Day-Adventist-Kirche auf
der Hauptstraße. Ihre Urgroßmutter war eine Sklavin gewesen, die, nachdem sie ihre
Freiheit erhalten hatte, einen Mann mit hellerer Haut heiratete. Meine Großmutter
heiratete einen Mann, der von schottischen Bauern abstammte. Meine Mutter hatte helle Haut
und stark afrikanische Gesichtszüge.
Die Mutter meines Vaters war teils Spanierin, teils Indianerin, teils Afrikanerin. Sie
heiratete einen Mann, der aus Nordafrika stammte und in einem großen Haus in St. Andrews
wohnte, wo sie Parties veranstalteten und ein geselliges Leben führten. Das Erbe der
Karibik hinterließ mir eine helle Haut und schwarzes, lockiges Haar. Und es hinterließ
Olive eine schwarze Haut, einen Kopf voller Kraushaar mit roten Strähnen und grüne
Augen.
Bei seiner Taufe erhielt mein Dad Newton Charles
zwei Vornamen. Viele Leute nannten ihn Charles Newton. Es machte ihm nichts aus, es war
ihm egal, wie rum seine Namen waren, schließlich waren es nur Namen, wie er sagte. Er
arbeitete für London Transport. Als er gerade erst in diesem Land angekommen war, bestand
sein erster Job darin, die Busfahrkarten einzusammeln. »Oben bitte nicht stehen,
festhalten und Ihre Karte, bitte«, war einer der ersten Sätze, die mein Vater ohne
starken Jamaika-Akzent aussprechen konnte. Nach ein paar Jahren bekam er das, was er eine
»Chance« nannte, und machte eine Ausbildung zum Mechaniker. Den Rest seines Lebens
verbrachte er damit, Busse zu reparieren, sie wieder straßensicher zu machen. »Das ist
qualifizierte Arbeit, Vivien, mit 'ner Ausbildung.« Ohne ihn »halten die Busse halb auf
'em Hügel, und die Reifen im Leerlauf, und nichts bewegt sich mehr, nur 'ne schwarze
Stinkwolke.«
Ohne ihn wär die Flotte der Londoner Busse in einem sehr schlechten Zustand gewesen. Also
stand er jeden Morgen um vier Uhr auf und kam nach Benzin stinkend in seinem dunkelblauen
Overall, der bis zur Brust mit Öl verschmiert war, wieder nach Hause.
Vivien
Auf dem Türrahmen zum Wohnzimmer waren
Striche. Für Olive und mich. Mit Bleistift auf die Farbe gezeichnet, weil unsere Mum sie
eines Tages, wenn es egal war, wie groß wir waren, oder wenn sich unsere Größe nicht
mehr wöchentlich änderte, wegwischen würde. Aber sie blieben trotzdem da. Olives
jüngste Striche waren höher als meine. Ich mußte mich auf Zehenspitzen stellen, um sie
richtig sehen zu können. Aber Olive war ja auch älter als ich, drei Jahre älter. Olive
war älter und größer, und mein ganzes Leben lang mußte ich mich auf Zehenspitzen
stellen, um sie zu sehen.
In Schwesterjahren sind drei Jahre eine lange Zeit. Drei Jahre bedeuteten, daß Olive in
der Unterstufe war und ich ein Baby in der ersten Klasse. Sie ging in einer schicken neuen
Schuluniform in die höhere Schule, und ich ging mit verschrammten Knien und Murmeln in
der Tasche in die Unterstufe. Sie ging mit ihrem Freund und knutschte auf der Türschwelle
rum; ich lief in Socken mit Sindy rum.
Sie war meine große Schwester. Ich war ihre verdammte kleine Babyschwester - ihre
nervende kleine Mistschwester - ihre Hau-bloß-aus-meinem-Zimmer-ab-Schwester - ihre
Du-gehst-mir-auf-den-Keks-Schwester.
Wir waren Schwestern, und wir sahen uns ähnlich. Wir hatten von väterlicher Seite die
gleichen Gesichtszüge geerbt. Eine große Nase und genauso große Ohren, aber irgendwie
nicht unpassend. Irgendwie paßten sie gut in unser ovales Gesicht; Olives war feiner
geschnitten als meines, symmetrischer. Aber ich hatte eine helle Haut - eine strahlende
Gesichtsfarbe. Im Dämmerlicht konnte man mich glatt für eine Italienerin oder Spanierin
halten. Olive war dunkler. Schwarz. Das Erbe der Karibik.
Unsere Eltern waren aus Jamaika. Meine Mutter war ein Mädchen vom Land, das auf einer
Farm in der Nähe von Savannah-la-Mar in Westmoreland aufwuchs. Ihre Eltern besaßen einen
Laden, hielten Hühner und gingen jeden Samstag in die Seventh-Day-Adventist-Kirche auf
der Hauptstraße. Ihre Urgroßmutter war eine Sklavin gewesen, die, nachdem sie ihre
Freiheit erhalten hatte, einen Mann mit hellerer Haut heiratete. Meine Großmutter
heiratete einen Mann, der von schottischen Bauern abstammte. Meine Mutter hatte helle Haut
und stark afrikanische Gesichtszüge.
Die Mutter meines Vaters war teils Spanierin, teils Indianerin, teils Afrikanerin. Sie
heiratete einen Mann, der aus Nordafrika stammte und in einem großen Haus in St. Andrews
wohnte, wo sie Parties veranstalteten und ein geselliges Leben führten. Das Erbe der
Karibik hinterließ mir eine helle Haut und schwarzes, lockiges Haar. Und es hinterließ
Olive eine schwarze Haut, einen Kopf voller Kraushaar mit roten Strähnen und grüne
Augen.
Bei seiner Taufe erhielt mein Dad Newton Charles
zwei Vornamen. Viele Leute nannten ihn Charles Newton. Es machte ihm nichts aus, es war
ihm egal, wie rum seine Namen waren, schließlich waren es nur Namen, wie er sagte. Er
arbeitete für London Transport. Als er gerade erst in diesem Land angekommen war, bestand
sein erster Job darin, die Busfahrkarten einzusammeln. »Oben bitte nicht stehen,
festhalten und Ihre Karte, bitte«, war einer der ersten Sätze, die mein Vater ohne
starken Jamaika-Akzent aussprechen konnte. Nach ein paar Jahren bekam er das, was er eine
»Chance« nannte, und machte eine Ausbildung zum Mechaniker. Den Rest seines Lebens
verbrachte er damit, Busse zu reparieren, sie wieder straßensicher zu machen. »Das ist
qualifizierte Arbeit, Vivien, mit 'ner Ausbildung.« Ohne ihn »halten die Busse halb auf
'em Hügel, und die Reifen im Leerlauf, und nichts bewegt sich mehr, nur 'ne schwarze
Stinkwolke.«
Ohne ihn wär die Flotte der Londoner Busse in einem sehr schlechten Zustand gewesen. Also
stand er jeden Morgen um vier Uhr auf und kam nach Benzin stinkend in seinem dunkelblauen
Overall, der bis zur Brust mit Öl verschmiert war, wieder nach Hause.
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