EINE GUTE-NACHT-GESCHICHTE
Berit Eigenbrod
Es ist Nacht, beinahe zwei Uhr früh und - - es
ist so still hier. Seltsam. Mitten in der Stadt, ich dachte, es wäre lauter. Aber dies
ist eine ruhige alte Straße: Altbau, große Häuser, Kopfsteinpflaster, alle paar Meter
eine Kastanie auf Grün. Die Bäume gefallen mir. Ich hätte die Straße Kastanienweg
genannt, aber sie heißt natürlich anders, nämlich Karlstraße. Damit kann ich nichts
anfangen, wer ist Karl? Morgen früh werde ich David danach fragen, falls ich es bis dahin
nicht vergessen habe. Aber ich vermute, David weiß auch nichts darüber. Für so was
interessiert er sich nicht.
Ich bin müde, so müde, aber ich kann nicht
schlafen. Draußen hält ein Auto, ich höre die Türen zuschlagen und Stimmen: ein Mann
und eine Frau. Mein Fenster steht offen, denn es ist August und warm. Die Absätze der
Frau klicken auf dem Straßenpflaster. Die Stimmen werden leiser, die Schritte lauter,
dann fällt unten die Haustür ins Schloss. Sind das unsere Nachbarn, die so spät
unterwegs sind? Auch danach muss ich David fragen. Ich höre die Leute nicht mehr, alles
ist wieder still.
Diese Stille ist schrecklich ungewohnt. Zu Hause
- da, wo ich bis heute (nein, inzwischen gestern) morgen gelebt habe, fünfzehn meiner
achtzehn Jahre verbracht, da wo Mama und Papa und meine Schwester Bea jetzt nur noch zu
dritt sind - zu Hause war es nie so still nachts. Ich weiß nicht genau, welches Geräusch
hier fehlt, aber es fehlt! Ich werde mich daran gewöhnen müssen, das geht bestimmt
schneller als man denkt. Hoffe ich zumindest. Aber dass ich heute nicht schlafen kann,
dass ich trotz der Stille keine Ruhe finde, ist kein Wunder. So viel ist anders geworden
mit diesem Tag, da kann man sich abends nicht hinlegen und einschlafen wie sonst auch, es
geht einfach nicht!
Denn heute bin ich ausgezogen und eingezogen
(sozusagen: umgezogen) in die Karlstraße Nr. 27, in den dritten Stock zu David Krahn.
Unter seinem Messingschild an der Tür klebt jetzt ein Streifen Tesakrepp, wo Bea mit
Filzstift "Florentine Spree" draufgeschrieben hat. Das bin ich, Tine für alle
und Flora für David. Flora sogar nur für David, meinen besten Freund, meinen
Blutsbruder: Wir waren neun, als wir uns im Zeltlager mit seinem Taschenmesser gegenseitig
die Zeigefinger aufschnitten. Die kleine weiße Narbe sieht man bei mir immer noch; hier
und jetzt natürlich nicht, dazu ist es zu dunkel. Aber ich kann sie spüren, wenn ich
darüber streiche, weil ich genau weiß, an welcher Stelle sie quer über die Fingerkuppe
läuft. Davids Narbe ist kaum zu erkennen, wahrscheinlich habe ich ihn nicht so tief
geschnitten wie er mich. Geheult hat er trotzdem.
Jetzt in diesem Moment schläft David ungefähr
40 cm neben mir. Allerdings auf der anderen Seite der Wand, in seinem Zimmer. Ich nehme
jedenfalls an, dass er schläft. Vor gut zwei Stunden haben wir uns todmüde Gute Nacht
gesagt. Schnarchen tut er nicht. Oder ist er vielleicht auch noch wach? Aber für ihn ist
nichts neu an dieser Nacht; er wohnt schließlich seit drei Monaten hier. Und nach einem
anstrengenden Tag wie heute, nein, gestern, wird er im Gegensatz zu mir bestimmt schlafen
wie ein Stein. "Träum was schönes, David", flüstere ich in Richtung Wand. Das
hat Mama früher immer zu mir gesagt. Träum was schönes. Ob das jemals wieder irgendwer
zu mir sagen wird? Ich glaube, das ist vorbei. Träum was schönes, Mama. Denk mal an
mich, wenn du jetzt nur noch einer kleinen Tochter abends einen Kuss gibst. Gute Nacht,
Mama.
Kann man gleichzeitig hundemüde und hellwach
sein? Was für ein beschissenes Gefühl. Ich bin total geschafft, aber ich schlafe nicht
ein. Es nervt mich, dass ich hier liege und mich von einer Seite auf die andere drehe, nur
um festzustellen, dass jede erdenkliche Position unbequem und auf keinen Fall eine ganze
Nacht auszuhalten ist. Vielleicht hätte ich die Cola vorhin besser nicht trinken sollen.
- Quatsch, daran kanns nicht liegen, ich hatte nur zwei Gläser und zwar vor halb
zehn. Missmutig schüttle ich das Kopfkissen auf (bestimmt zum hundertsten Mal in dieser
Nacht). Irgendwie ist das Bett ganz anders, obwohl es dasselbe Bett ist, in dem ich seit
Jahren schlafe. Zu Hause hatte ich einen Baldachin aus blauem Stoff darüber an der Decke
befestigt, von dem goldene Sterne hingen. Hier werde ich an die hellgelbe Tapete starren
müssen, wenn ich morgen früh aufwache. Falls ich überhaupt noch einschlafe.
Wie spät mag es inzwischen sein? Ich wälze mich
zur Bettkante und will nach dem Wecker auf dem Nachttisch greifen aber da ist kein
Nachttisch. Meine Hand fliegt gegen den Lampenschirm, der noch auf dem Boden steht und es
scheppert ordentlich. Ich hatte vergessen, dass mein neues Zimmer noch nicht eingerichtet
ist. Es sieht sehr kahl aus, geradezu spartanisch. Bea hat es als "irgendwie
cool" bezeichnet. Außer Bett und Schreibtisch stehen nur drei große Kartons herum,
zum Auspacken war heute keine Zeit. Cool finde ich das nicht, sondern eher ungemütlich.
Andererseits: ich habe zum ersten Mal so richtig Platz, freien Raum, Luft zum Atmen (wie
das klingt!)... Ob ich es einfach so lasse? Aber den Wecker sollte jetzt ich vielleicht
doch raussuchen, denn ich traue David nicht zu, dass er mich morgen rechtzeitig weckt.
Also stehe ich auf und tapse zum Lichtschalter an der Tür. Die Dielenbretter knarren ein
bisschen, ein ungewohntes Geräusch, aber schön. Ich mag Holzfußboden. Zu Hause hatten
wir Teppich. In dem Moment, als ich die Hand nach dem Lichtschalter ausstrecke, geht die
Tür auf und ein Riesenkerl steht plötzlich vor mir. Zuerst kriege ich einen furchtbaren
Schreck, bis ich David erkenne. "Was machst du denn?" frage ich aufatmend.
"Äh, ja", bringt er raus und kratzt
sich verlegen im Nacken. Er hat nur Boxershorts an. Seine Haare sind noch verwuschelter
als sonst und stehen wild in alle Richtungen ab. Süß.
"David?!" frage ich wieder. "Was
ist?"
Da guckt er mich plötzlich an und sieht ganz
durcheinander aus dabei. "Entschuldige, ich ich hatte was gehört und..."
Pause. Schließlich: "Alles okay, Flora?"
Na so was, er sorgt sich um mich! Das ist ja
Das hätte ich nicht von ihm erwartet, kleiner Macho, der er sonst gerne ist! Ich
muss lächeln. Jetzt verwirrt er mich. "Ja", sage ich. "Ich hab nur -
ich dachte, da wäre mein Wecker und ich hab irgendwie - es war aber der
Lampenschirm, also - ist alles noch ein bisschen ungewohnt, weißt du? Aber schon in
Ordnung und so." Hilfe, was rede ich denn da?
"Gut, dann - träum was Schönes,
Flora." Er grinst, streicht mir fast schüchtern über die Wange und verschwindet
wieder in sein Zimmer.
"Du auch, David." sage ich leise. Und
frage mich im Stillen, wie das wohl werden wird mit unserer kleinen WG. Mit ihm und mir.
Ich lächle immer noch. "Träum was Schönes."