Jugend schreibt
We could be heroes
Anna Riegel
Die Frage: "Was willst du mal werden, wenn du groß
bist?" war für mich als Kind einfach zu beantworten: "Heldin!" Deshalb
kletterte ich einmal heimlich auf den Zehn-Meter-Turm im Olympiabad. Ich fühlte mich
toll, wollte da hinauf, ganz oben stehen und auf das tiefblaue Wasser hinunterblicken. Ich
kletterte. Wenn ich abstürze, dachte ich, bin ich tot. Trotzdem kletterte ich weiter. Als
ich endlich oben angekommen war, konnte ich mich fast nicht mehr festhalten, so naß waren
meine Handflächen. Angstschweiß. Da stand ich nun auf der Eisentreppe, die Nase reichte
gerade über den Rand des Sprungbretts. Ich hielt mich an der obersten Stufe fest. Nur
noch über den Rand klettern, dann hätte ich es geschafft. Aber wie sollte ich dann
wieder zurückkommen? Vorwärts oder rückwärts? Sollte ich mich vorher auf den Bauch
legen und mit den Füßen nach der Stufe tasten? Und wenn ich nun nicht mehr
hinunterklettern könnte, müßte ich springen. Ich schluckte einmal und kletterte, ohne
einen Fuß auf das Sprungbrett gesetzt zu haben, wieder hinunter.
So ging das die nächsten Jahre weiter. Bei Familienfeiern spülte ich das tagelang
ausgetüftelte Gedicht im Klo runter, kurz bevor ich es vortragen sollte. Vor meinem
ersten und letzten Springturnier ließ ich mich auf dem Abreitplatz absichtlich vom Pferd
fallen. Sogar meine Wahl zur Schülersprecherin lehnte ich nachträglich ab. Dabei war ich
überzeugt davon, daß mein Gedicht der Oma Tränen der Rührung in die Augen getrieben
hätte, daß ich einen Pokal gewonnen hätte und daß ich in die Schulgeschichte
eingegangen wäre.
Jedesmal, wenn ich in mein Tagebuch schrieb, was ich in meinem Leben erreicht
hatte, mußte ich feststellen: ich war genauso mittelmäßig wie alle anderen. Ich?
Mittelmäßig? Nicht die Spur! Und so faßte ich neue Pläne, die genau dort endeten wo
sie immer endeten: kurz vor dem Ziel.
Mal wieder überschwemmt mich meine Mutter mit einem
Stapel Papier: Berufs-Infos und Stellenanzeigen. "Du mußt dir eine Alternative
überlegen!" sagt sie. "Ich will aber studieren!" antworte ich darauf.
"Und wenn du wieder keinen Platz bekommst?" Ich zucke die Schultern. "Warum
wirst du nicht Bankkauffrau?" fragte sie. Diese Anmaßung entlockt mir ein
verächtliches Schnauben. "Ich studiere aber, und mache Karriere!" knurre ich.
"Dann studier halt BWL", schlägt mein Vater da vor, worauf ich wortlos in mein
Zimmer verschwinde und die Tür mit Nachdruck zuknalle. Für Medien-Design hätten sie
mich beinahe gewonnen, aber ich will in München bleiben. Wegen meiner großen Liebe und
meinen Freunden.
Die große Liebe hat aber plötzlich einen Knutschfleck, der nicht von mir stammt.
Es tut ihm leid. Mir auch. Und so rase ich im Sturzflug durch das Ende einer Beziehung,
Love of my liefe, adieu, ciao, ciao, zwei Jahre dahin, ein Zehntel meines Lebens. Lieber
ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, sagen sie, meine eigentlich-immer-
Single-Freunde, klopfen mir auf die Schulter und ziehen zum Studieren in andere Städte.
Aber was ist, wenn das Ende mit Schrecken kein Ende nimmt? Bruchlandung wohl. Ich bekomme
wieder eine Absage von der Uni.
Und darauf gehe ich erstmal einen trinken, und zwar mit dem erotischsten Mann der
ganzen Stadt. "Stürz dich nicht gleich wieder in die nächste Beziehung. Du mußt
mal lernen alleine zu sein." hatten sie noch gesagt, meine Freunde, die schließlich
nicht daran gewöhnt sind, immer jemanden zu haben. Ja, ja,... aber Dominik Prinz ist
etwas Anderes, mit dem würde ich schon lange gerne mal, immer diese Monogamie, aber
jetzt, jetzt ist ja alles anders, und wir starren uns nur blöd an.
Diese lähmende Dummheit, die sich plötzlich über mich stülpt wie eine Glasglocke. Es
hilft also nichts, älter zu werden. Immer noch der selbe Mist: den Bauch voll klebriger
Frösche, nein, wie Schmetterlinge hat sich das nie angefühlt, und eine Gänsehaut im
Nacken. David Bowies "We could be heroes" tönt aus den Lautsprechern. Wie
passend. Verzweifelt zermartere ich mir das Hirn nach einem intelligenten Satz, irgendwas
Originelles, na ja, Hauptsache irgendwas: "Hi!"
Ein spitzbübisches Grinsen hüpft über seine Lippen. Dominik Prinz liebt es,
Frauen wahnsinnig zu machen. "Komm," sagt er irgendwann, nimmt meine Hand und
zieht mich aus der Verlorene-Existenzen-Kneipe, mein Arm steht unter Strom, und er läßt
mich viel zu früh wieder los. "Wir gehen zu mir, okay?" So leicht geht das
also.
"Und, geht´s dir gut?" Wie er mich von links oben anschaut.
"Mhm, und dir?"
"Toll geht´s mir! Und wie läuft´s mit Daniel?" Das fragt er mich
immer, wenn wir uns treffen, aber jetzt ist alles anders: "Wir sind nicht mehr
zusammen."
Er nickt und lächelt, legt den Arm um mich und sagt: "Schön."
Tatsächlich, heute ist es zum ersten Mal schön. Wir laufen durch die Straßenschluchten,
ab und zu lugt der Mond zwischen zwei Dächern hervor und schließlich landen wir in
Dominiks Zimmer. Es gibt nur eine Matratze, eine Bettdecke. Auch nur ein Kissen, aber das
kann er ganz für sich alleine haben. Ich ziehe seine Schulter vor. Nackte Haut. Der kennt
nichts, hat sich in Shorts hingelegt, ich rieche seinen Schweiß, bin vollgepumpt mit
Adrenalin. Augen zu. Hand auf seiner Brust. Jetzt könnten wir also, und ich liege nur da,
steif wie ein Skateboard, kann mich nicht entscheiden, ob es nur mein eigenes Herz ist,
das einen Affentanz aufführt. Es pumpt und pocht bis in die Fingerspitzen, in den Ohren,
ich warte. Rieche. Mein Magen dreht sich, das Hirn liegt brach. Er streicht mir über die
Haare, tausend Stiche in meinem Körper, seine Hand bleibt in meinem Nacken liegen... und
er schnarcht.
Ich atme aus, bis ich so schlaff bin wie eine angestochene Luftmatratze, und dann
kommt die Wut. Liegt er da und pennt, oh ja, er beherrscht die Kunst, Frauen um den
Verstand zu bringen. Der Oberkörper freigelegt bis zum Bauchnabel, dort geht der Streifen
Haare los, der irgendwo in Dunkelheit und klebriger Wärme endet. Er ist heiß genug,
braucht keine Decke, und ich glaube, ich muß gleich sabbern oder mir immer wieder auf die
Finger klopfen, wie einem unartigen Kind, das seine Hände überall haben muß.
Zumindest muß ich nicht alleine schlafen.
Als ich aufwache, hält er mich umarmt, sein Mund an meinem Hals. Ein paar Sekunden selige
Wärme, je wacher desto Panik. "Klo!" murmle ich mit zusammengepreßten Zähnen
und flüchte ins Bad, hauche mir verschämt in die hohle Hand. Aus dem Spiegel starrt mich
ein verknautschtes Gesicht an, eine Ladung kaltes Wasser hilft, und Zahnpasta habe ich
schon als Kind gegessen.
Als ich zurückkomme, steht er schon angezogen da, aber er lächelt. Mit dem Mund,
mit den Augen, und er bietet mir einen Transfer auf seiner Fahrradstange zur U-Bahn an.
Der Tag wird gut. Warmer Wind im Gesicht, die Stadt schläft noch, und ich höre die
Vögel, keine Abgase in der Luft. Er stützt sein Kinn auf meine Schulter, Bartstoppeln an
meiner Wange, da stehen wir schon vor dem U-Bahn-Schacht.
Vor meiner Haustür holt mich die Bruchlandung ein, mit Rosen und Champagner, und
ich muß Daniel erklären, daß es keinen Glasberg mehr geben wird, und keinen Sturzflug.
Daß es zu spät ist. Trotzdem: bei mir in Bett klammern wir uns aneinander wie
Ertrinkende, er weint und ich weine, wir ersaufen in unserem Schmerz, halten uns, nackt,
und versuchen, wenigstens die Körper irgendwo zu speichern, um nicht alles zu verlieren.
Ich dachte, ich wäre dem Schmerz davongelaufen, aber jetzt hat er mich gekriegt.
Zumindest Daniels Schmerz konnte ich nicht ausweichen, und habe dabei meinen eigenen
wiedergefunden, den alten und den neuen. Sein Geruch, und der innere Frieden, wenn ich in
seinen Armen einschlafen kann. Immerhin ein angemessener Abschied für zwei Jahre Love of
my life, adieu, ciao, ciao.
Alleinsein ist so verdammt einsam. Außen nicht, aber innendrin, diese
Verlorenheit. Als Kind hieß das "Heimweh" und ich weiß noch wie entsetzt ich
war, als ich das selbe Gefühl zum ersten Mal zu Hause hatte, nachts in meinem eigenen
Bett. Da hieß es dann "Pubertät". Später immer mal wieder
"Liebeskummer". Und jetzt "Alleinsein". Ich weiß, da muß ich durch.
Aber es macht keinen Spaß.
In meiner Tasche finde ich eine Schachtel Pralinen. Die ist von Dominik Prinz. Soll eine
Frau heutzutage lachen oder weinen, wenn sie Pralinen geschenkt bekommt? Ich weiß es
nicht, ich weiß gar nichts mehr, nur daß es schön wäre mit ihm, und ich stopfe die
Pralinen in mich rein. Sie pappen mir hämisch den Mund zusammen und am Boden der
Schachtel liegt ein Zettel: "Wollte dir Tschüss sagen, ziehe nach Köln. Kuß,
Dominik." Schon wieder so eine Geschichte, die aufhört, bevor sie richtig angefangen
hat.
Und jetzt? Alles weg. Mich hält nichts mehr, hier, und irgendein Gefühl in mir sagt:
"Du bist eigentlich erwachsen. Laß mal Mamas Rockzipfel los." Ja. Ja, das wäre
dringend nötig. Weg von hier, ganz weit weg, in ein anderes Land. Alleine. Ich will
Dominik und vermisse Daniel und überhaupt fühle ich mich sehr jämmerlich und alleine,
und ein paar Tränen tropfen auf die letzten Worte meines Prinzen.
"Und jetzt?" fragt meine Mutter. Ich zucke die Schultern. "Jetzt ist
es zu spät. Alle Lehrstellen sind vergeben." fügt sie hinzu. Ich nicke.
"Überleg dir was, und zwar schnell!"
"Ja", sage ich, und habe keine Ahnung was ich mit meinem Leben anfangen soll.
"Ich könnte ja ins Ausland gehen..." sage ich.
"Ach, das machst du doch sowieso nicht! Du mit deinen tollen Plänen! Und
letztendlich bist du doch zu feig!" sagt mein Vater, und das sitzt. Ja, ja, ich, das
heulende Heimwehkind, das nie bei Freundinnen übernachten konnte. Wenn sie mir nur einmal
etwas zutrauen würden. Ihr werdet schon sehen wie das ist, wenn ich plötzlich weg bin!
Denke ich und gehe zum Italienischen Kulturreferat. Italien, mein großer Traum. Trotzig
und wütend nehme ich die Anmeldeformulare für die Ausländer-Uni in Perugia mit. Keine
Ahnung, wo Perugia ist. Wichtig ist: keine Vorkenntnisse, keine Zeugnisse, bezahlbar und
weit weg! Die werden schon sehen! Mein Vater weiter skeptisch, meine Mutter leicht
beunruhigt, und ich bockig. "We could be heroes", summe ich, fülle die
Formulare aus, faxe sie gleich durch und schicke die Anzahlung per internationaler
Postanweisung auf den Weg.
Das Fax spuckt die Bestätigung aus Italien schon ein paar Stunden später aus: ich
bin tatsächlich angenommen. Für ein Jahr. Es gibt kein zurück mehr. Die nackte Angst.
Erst mal gehe ich in mein Zimmer und fange an zu heulen. Von einem Tag auf den anderen
werde ich ganz alleine sein, wer weiß wie ich wohnen werde, und mit wem. Perugia ist für
mich nur ein Punkt auf der Landkarte und die Zimmervermittlung eine dubiose Adresse. Ich
bin nicht der Typ dafür, alleine in die Disco zu gehen und Leute anzusprechen wie
soll ich jemanden kennenlernen? Ein anderes Land, eine fremde Sprache, eine andere
Mentalität. Ich heule und packe und heule und packe, und als mich meine Mutter so sieht,
weint sie gleich mit, und das ist schlimmer als meine Angst. "Willst du wirklich
gehen? Du mußt ja nicht!" Meine Entscheidung läßt sich aber nicht mehr
Rückgängig machen, und ich frage mich, wie oft ich mein Bettlaken vollheulen werde, um
alles, was ich verloren habe. Sind das jetzt Eigengeburtswehen?
Hier wird sich gar nicht so viel verändern. Meine Eltern werden noch die selben
sein, wenn ich zurückkomme, und die Stadt auch. Mein Schmerz ist also überhaupt nicht
logisch. Aber es ist deshalb so viel mehr, weil ich gerade die ersten, wackeligen Schritte
in ein eigenes Leben mache. Seit zwanzig Jahren würde ich jetzt zum ersten Mal gerne
wieder Daumenlutschen. Wie blöd. Ja, das sind Eigengeburtswehen.
Und dann ist es soweit. Die Eltern heulen auf dem Bahnsteig, ich heule aus dem
Abteilfenster heraus, Kind komm bald wieder, Mama laß mich nicht allein Bahnhöfe
sind ein guter Platz für Urängste, für Tränen, in denen eine Ahnung davon steckt, was
da noch alles kommen kann, im Leben. Der Zug ruckt an und ich würde gerne noch schnell
aus dem Fenster springen, der letzte Weinkrampf schüttelt mich, und dann weiß ich: das
Schlimmste ist vorbei. Jetzt kann ich endlich eine Heldin sein, alleine im Nachtzug. Der
Achterbahntrip in ein neues Leben hat begonnen, in mein eigenes, selbstgebautes Leben.
Mein Leben, ein Spiel, das sich nicht unterbrechen läßt, und irgendwo wird es auch ein
Ziel geben, und einen Gewinner.

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